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berlinw3

Blumenbukett in Petit Point

Berlin, verm. Mitte 19. Jahrh.

gestickt in Wolle und Seide, ca. 49 x 40 cm

 

Berliner Wollstickerei - Berlin Wool Work

Unter „Berlin work“ oder „Berlin wool work“ versteht man auch heute noch im englischsprachigen Bereich Motive in Petit Point Stickerei (halber Kreuzstich über 1 Fadenkreuz) auf Stramin mit Wollgarnen aus dem 19. Jahrhundert. Wir denken heute vor allem dabei an die gestickten Biedermeier-Rosen z.B. auf Stuhlbezügen, Kissen, Etuis oder Taschen, die häufig auch als viktorianisch bezeichnet werden. Stickmustervorlagen und später auch Woll-Stickgarne wurden aus Berlin in großen Mengen in die ganze Welt, vorwiegend nach England und in die USA, exportiert. Es soll allein bis 1840 14.000 verschiedene Vorlagen gegeben haben, in einer von Max Heide geschätzten exportierten Auflage nur für 1850 von ca. 100.000 Exemplaren pro Jahr. Von Anfang der 30er bis Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts war die Blütezeit für diesen Gewerbezweig in Berlin.

Grundlage für diese Entwicklung waren die in Berlin erstmals 1804 publizierten kolorierten Stickmustervorlagen. Dieses System der Darstellung der verschiedenen Stichfarben hat sich bis heute kaum geändert, weil es sich in dieser Form bewährt hat. Heute gibt es eine unzählbare Flut von Vorlagen für Kreuzstich in allen Stilrichtungen in Zeitschriften, Büchern und im Internet vorwiegend aus den USA, die mit speziellen Computerprogrammen erstellt werden.

 

Penelope

Blumenstrauss für Penelope

Vorlage

 

1804 veröffentlichte der Kunstverleger Phillipson in Berlin eine eigene Mustersammlung mit 12 verschiedenen kolorierten Themen auf gerastertem Papier. Jetzt war es nicht mehr notwendig, Motiv-Umrisse zu zeichnen oder durchzupausen und auf den Stoff zu übertragen. Schattierungen mußten nicht mehr kunstfertig interpretiert werden, die Zählvorlagen gaben jede Farbe detailliert für jeden Stich vor und richteten sich in ihrer Farbgebung nach den vorhandenen Stickgarnen. Die Vorlagen konnten Farbe für Farbe beim Sticken ausgezählt werden ohne weitere Vorarbeit durch die Stickerin. Damit begann die weltweite Verbreitung des Kreuzstichs zunächst in Form des Petit Point und drängte vielfach andere Sticktechniken zurück.

Die ersten Muster von Phillipson waren auch Vorlagen zum Sticken, aber eigentlich vor allem als Vorlagen zum Perlenstricken gedacht. Waren die ersten Motive noch in Heften zusammengefaßt (wir bezeichnen heute solche Hefte als Leaflets), erschienen bald Musterbögen ähnlich den Bilderbögen und wurden in Auflagen von 100 Stück und mehr als Stickmustervorlagen verkauft. Diese Musterbögen waren ein großer Erfolg, zum Einen, weil man aufwendige Motive in vielen Farben jetzt einfach sticken konnte, zum Anderen, weil diese einzelnen Musterbögen auch für breitere Käuferschichten erschwinglich wurden. Berliner Wollstickerei kam in den 30er Jahren in ganz Europa in Mode. 

Es entstanden in den nächsten Jahrzehnten viele Verlage, die sich ausschließlich mit dem Herstellen von Vorlagen für die Stickerei beschäftigen. Insgesamt sind 31 Verleger in Berlin im 19. Jahrhundert nachgewiesen. Im Zuge dieser Entwicklung und des Exports der Stickmuster entwickelte sich auch die Garnindustrie. Anfang des Jahrhunderts wurden vorzugsweise englische Wollgarne verwendet, ab den 30er Jahren wurden Berliner Garne in großen Mengen zusammen mit den Vorlagen exportiert.

In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts ging das Interesse allmählich zurück, ab den 70ern wurde Kritik an den Tapisseriestickereien als Geschmacklosigkeit laut. Als Grund hierfür werden häufig die Erfindung der Anilinfärbungen und, damit verbunden, immer grelleren Farben genannt. Auch der Zeitgeschmack hatte sich geändert. In der Zeit des Historismus waren andere Motive nach historischen Vorbildern (z.B. in Kreuzstich auf Leinen) gefragt, außerdem wurden aktuelle Motive zunehmend auch als Beilagen in Frauenjournalen angeboten. Es blieb die Fabrikation von Tapisserievorlagen zumeist für den Gobelinstich (halber Kreuzstich), vorwiegend direkt auf Stramin gedruckt, und Halb- und Fertigwaren, wie sie auch noch heute als „Gobelins“ angeboten werden.

Während für den Kreuzstich bis heute immer wieder neue Stilrichtungen entstanden und Zählvorlagen entworfen wurden, beziehen sich die Motive für den Petit Point auch heute noch fast ausschließlich auf die Vorbilder des 18. und 19. Jahrhunderts, gestickt von einer verschwindenden Minderheit.

Wenn wir heute unter dem Stichwort „cross stitch“ Seiten im Internet suchen, finden wir eine unüberschaubare Zahl von englischsprachigen Seiten, vorwiegend aus den USA und Großbritannien. Sie zeigen die seit einigen Jahren wieder steigende Popularität des Kreuzstichs, die auch bei uns langsam wieder wächst. Der Weg zu den Stickbegeisterten scheint in Zukunft offensichtlich vor allem über das Internet zu führen, und die Vorlagen kommen heute aus den USA nach Europa.
 

 

 

 

14.6.2002